Gesundheitswissen, (unbewusstes) Krankheits- verhalten, Veränderungsbedingungen

Wir Psychotherapeuten wissen sehr viel darüber und erleben täglich, dass sich ersehnte Veränderungen, trotz bewusstem Wollen und Wünschen, nicht realisieren. Dem >sich in eine gewünschte Richtung verändern wollen<, stehen oft, mehr oder weniger unbewusste, Motive für ein Festhalten an bekannten, gar belastenden Situationen, schädlichem Verhalten oder an einer körperlichen oder seelischen Krankheit und Leiden gegenüber.
Unter dem Begriff der >negativen therapeutischen Reaktion< wurde viel darüber geschrieben, warum ausgerechnet dann, wenn sich eine positive Entwicklung abzeichnet, Patienten manchmal die gesamte Behandlung, den Arzt oder Psychotherapeuten in Frage stellen.

Ganz allgemein gesprochen kann man davon ausgehen, dass sowohl ein Symptom oder eine Krankheit, wie auch Gesundheit, der Aufrechterhaltung eines körperlichen / seelischen Gleichgewichtes oder der Stabilisierung von Beziehungen dient.
Bei frühen Störungen (die in Beziehungen während der ersten Lebensjahre ihren Anfang nahmen) treten die Störbilder infolge lückenhaft entwickelter Fähigkeiten auf (beim differenzieren, integrieren und regulieren); später sind Störungen oft Folge von Konflikten im Zusammenhang mit Entwicklungserfordernissen oder Anpassungsprozessen an neue Umwelten. Die Dynamiken sind dabei grundsätzlich anderer Art. Rudof  zeigt in seinem Buch >Strukturbezogene Psychotherapie<, 2004,  3. Aufl. 2013, S. 60 folgendes Diagramm, das die entscheidenden Unterschiede in der Wahrnehmung und Deutung der Welt zeigt:

Konfliktdynamik                                                                  Strukturdynamik
Bedürfnisdynamik:
Was will das Subjekt von den Objekten?
Es sucht (aktiv) Befriedigung für Wünsche,       Es erwartet (passiv) von den Objekten
Triebregungen, Impulse … dadurch                  Bedingungen, unter denen es strukturell
Lustgewinn bzw. Unlustvermeidung                  funktionieren kann.
kognitiven Überzeugungen: Wie reagieren die Objekte im Erleben der Subjekte?
Sie reagieren versagend, strafend,                   Sie reagieren überwältigend, bedrohend,
ängstigend, beschämend, fordernd                   verfolgend, zerstörend, vernachlässigend
Affektdynamik: Wie reagiert das Subjekt emotional auf die erlebte Situation?
Es reagiert mit objektgerichteten Emo-             Es reagiert mit diffuser emotionaler Überflutung
tionen, wie Angst, Scham, Schuld, Ärger           oder Entleerung und maladaptiven Emotionen,
…………………………………………………………….              wie Verzweiflung, Schmerz, Enttäuschung,
…………………………………………………………….              Gekränktheit, Empörung
Dynamik regulierender Prozesse: Wie steuert das Subjekt seine Emotionen?
Es reagiert durch Sichanpassen, Sich-               Es reagiert kurzfristig mit Notfallmaßnahmen
unterordnen, Verzichten, Sichauflehnen;           der Selbstbeschädigung, Selbstentleerung,
ferner durch Aktivierung von Abwehr,               Suchtentwicklung, destruktiven Beziehungs-
so dass die verdrängte Konfliktdynamik            Gestaltungen;
unbewusst wirksam bleibt.                               langfristig mit der Ausbildung neurotischer
……………………………………………………………..             Bewältigungsmuster (hier schizoid, narzisstisch).

Begrifflichkeiten die Sie in den Praxen von Ärzten und Therapeuten zu hören bekommen, beziehen sich auf somatisches (körperliches) oder psychisches (neurologisch-seelisches) Befinden; und dennoch beschreibt all das Vorgänge in einem einzigen Körper; allerdings in zwei Sprachen beschrieben: der Arzt hört von seinem Patienten z.B. vom Schmerz, fühlt die oft nicht bewussten Muskelverspannungen (machen eng und Druck), sieht später den Gelenkverschleiß und die Bandscheibenvorfälle; während der Psychologe die gleichen unbewusste Anspannung vom Patienten als bewusst erlebte Angst (Enge) und später als Erschöpfung und Depression beschrieben bekommt. Die jeweils andere Seite wird dem Behandler oft vorenthalten, da (häufig sogar von beiden Seiten) kein Zusammenhang hergestellt wird.
Beide Phänomene hängen jedoch oft miteinander zusammen oder wechselwirken, sind im Körper parallel verlaufende Wahrnehmungen, zum Teil von sich wechselseitig bedingenden, sich aufschaukelnden Prozessen.

Im medizinischen Sprachgebrauch bezeichnen alle Prozess die mit -itis enden entzündliches Geschehen (Konflikt, Kampf), alle -ose-Endungen beschreiben Verschleißerscheinungen (Anpassung und Folge von Überlastung und Verbrauch).
Dabei geht es, nicht nur in psychologischer Hinsicht, in unserem Leben immer um vernetzte, komplexe Strukturen und Prozesse, die miteinander wechselwirken; was die Wissenschaft zu verstehen und zu beschreiben sucht – obwohl das nicht einfach ist; weil wir selbst nur in symbiotischen Beziehungen mit unseren mikrobiellen Mitbewohnern auf und in unserem Körper existieren und zudem mit vielen anderen Personen und Bedingungen interagieren und kommunizieren.
Denken Sie an ein Mobile: sobald sich ein Teil bewegt, bewegen sich alle Teile, alles ist wechselwirkend miteinander verbunden, so dass oft nicht vorausgesagt werden kann, wohin eine Bewegung führt. Wahrscheinlich ist nie etwas gleich, wir sehen jedoch viele selbstähnlich verlaufende Muster.
So gelingt es uns immer wieder, Muster zu erkennen/konstruieren und Theorien zu entwerfen, mit denen sich besser oder zum Teil auch nicht so gut und gesund leben lässt.
Manches verstehen wir schon, bei anderem müssen wir noch mutmaßen.
Letztlich aber gibt uns unser Körper meist zuverlässig Rückmeldung, was ihm gefällt, was funktioniert bzw. was schmerzt oder unsympathisch und nicht passend ist. Allerdings gilt, wie bei Musikinstrumenten, auch beim Körper, dass nur aus einem gepflegten Instrument, mit viel Übung auf Seiten des Benutzers, saubere Resonanzen hervorzubringen sind. (vergl. Rosa, 2016)
Sind manche Grundstrukturen (noch) nicht erlernt, sind Einstellungen und Haltungen problematisch, zeigt unser Organismus auch schon mal falsche Motive und Impulse als stimmig an. Daher brauchen wir im sozialen Kontext andere, um eine passende Näherung an gesundes,  funktionierendes und gemeinschaftstaugliches herauszufinden. Und auch da kommt es sehr auf die Melodie an, die wir (früh) zu hören bekommen und bekamen und ob wir dann mit dem >wofür< und >wohin< und >wie< einverstanden sind.

Veränderungen, also Abweichungen von vertrauten Mustern und bekannten Erlebens- und Verhaltensweisen, stellen sich für den Organismus immer erst als eine Bedrohung dar, denn bei allem Neuen ist zunächst unklar, wohin es führt und wie es wirkt. Es könnte das System immerhin bedrohen und in seiner Existenz gefährden! Es könnte natürlich auch Verbesserungen und Erleichterungen bringen!? Diese, durch die Ambivalenz erzeugte, Spannung muss ausgehalten werden, muss einer Risikoabwägung unterzogen werden – ohne dass man konkrete Daten verfügbar hat!
Altvertrautes lässt sich einschätzen, Fähigkeiten und Fertigkeiten sind ausgebildet, kosten nach einer Weilen nicht mehr so viel Kraft; aber Neues erfordert jetzt noch unbekannte Lösungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten. Sie müssen erst noch geschaffen und beübt werden, kosten viel Kraft und Unsicherheit, die auszuhalten ist und viel Selbstvertrauen erfordert.
Stellen Hochrechnungen aufgrund negativer Erinnerungen und ängstigender Einsichten die bisherigen Bewältigungsstrategien in Frage, werden die bisherigen Fähigkeiten in der neuen Situation auch noch da sein. Bei Bedarf werde ich sie gebrauchen können.
Doch insbesondere die noch unvertrauten Handlungs- und Erlebnismöglichkeiten bedrohen  meine bisherige Selbstdefinitionen: Wer bin ich, wenn ich nicht mehr der Alte bin? War dann alles frühere sinnlos? Was, wenn ich scheitere? usw.
Dass da jemand zurückhaltend ist, ist angesichts solch existentieller Themen, die sich hier aufwerfen, sehr verständlich. Daher bedarf es in der Regel hoher Sicherheitsbedingungen und Zeit, um sich anzunähern, um gedanklich vorzueilen, abzuwägen, um Veränderung zu wagen – es sei denn, man hält das Alte nicht mehr aus oder das Neue ist so schillernd attraktiv, dass alle Bedenken über Bord geworfen werden.

Für eine erfolgreiche und gelingende Veränderung, auch (Psycho)Therapie, ist es daher äußerst sinnvoll, dass der (Psycho)Therapeut seinerseits nicht im Veränderungsdruck steht oder von einem sogenannten Erfolg abhängig ist, sondern vielmehr gelassen und geduldig auch das Zögern des Patienten vor der Veränderung aushalten kann.
Dabei muss der Klient/Patient gleichzeitig verspüren, dass seine Fort- und  Rückschritte dem Arzt / Therapeuten (= Begleiter) nicht gleichgültig sind; dass er sie als notwendige Bewegungen des ganz normalen, nicht linear verlaufenden Lernvorganges versteht.
Um dieses fragile Gleichgewicht auszuhalten, braucht es einen sicheren Grund, einen Halt, einen Rahmen, sein Setting und vor allem eine Beziehung, die trägt, in der man sich wertgeschätzt, gehört und gesehen fühlt, sich Experimente erlauben kann, bis der rechte Moment gekommen ist, den anstehenden Entwicklungsschritt und den Ordnungsübergang zu wagen. Erst dann ist man bereit die vertraute Komfortzone des Bekannten und Vertrauten zu verlassen;  es sei denn, der Schmerz / das Leid ist so groß, dass man auch „ohne Netz“ über das Hochseil geht, um das Neue zu wagen.

Für ärztliche Behandlungen gilt das gleiche, auch wenn es dort nicht so ausgiebig konzeptualisiert ist: Die gute Beziehung zum Arzt, die auf Freiwilligkeit aufbaut, das Vertrauen in seine Kompetenz, erhöhen die Wahrscheinlichkeit, das die Behandlungsvorschläge des Arztes angenommen werden und sogar auch besser wirken. Viele Untersuchungen haben gezeigt, dass ein wesentlicher, vielleicht der wesentlichste Wirkfaktor in der ärztlichen/therapeutischen Behandlung die Beziehung darstellt.

Was aber passiert, wenn das Honorar des Arztes erfolgsabhängig würde?
(ganz abgesehen von der Schwierigkeit, was als Erfolg, von wem, definiert wird)
Viele Patienten werden dann das Gefühl haben, der Arzt wünsche sich eine Besserung oder Heilung nun nur oder überwiegend deswegen, weil er finanziell davon profitiert. Ein ähnliches Misstrauen hat sich schon bei vielen Patienten ausgebreitet, seit bekannt wurde, das Pharma-firmen die Verschreibung bestimmter Medikamente sponsern oder dass Ärzte ihre Patienten in bestimmte Verträge drängen.
Politisch werden hier, geleitet von der Idee, Konkurrenz drückt den Preis, völlig falsche Anreize gesetzt und therapeutische Möglichkeiten verspielt. Immer wieder wird verkannt: ein Patient ist nur zum Teil auch Kunde, denn dieser Kunde ist in der Regel nicht freiwillig Patient.

In Anlehnung an: Jürgen Doebert: Schuss nach hinten – Im Bemühen um eine bessere Qualität wird die Behandlung ins Korsett geschnürt. Neue Kriterien sollen künftig die Vergütung ärztlicher Leistungen bemessen. Was passiert, wenn das Honorar vom Erfolg abhängt; in: Projekt Psychotherapie 03/2009, Das Magazin des Bundesverbandes der Vertragspsychotherapeuten e.V.



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