Neues Psychotherapieverständnis

Psychotherapie – als evidenzbasiertes Prozessmanagement
(lt. Duden: Psychotherapie = Wissenschaft von der Behandlung psychischer und körperlicher Erkrankungen durch systematische Beeinflussung des Seelenlebens; Evidenz = überwiegende Gewissheit, einleuchtende Erkenntnis; Prozess = Verlauf, Ablauf, Hergang, Entwicklung; Management = Leitung eines Unternehmens)

Nach diesem neuen Verständnis ist Psychotherapie nicht mehr „die Durchführung von Interventionen im Sinne von Umweltreizen, durch die ein System (z.B. Mensch oder Gruppe) zu einer ganz bestimmten Reaktion veranlasst werden soll“, sondern „ein Schaffen von Bedingungen für die Möglichkeit von systeminterner Selbstorganisation“.

Insofern hat sich das Verständnis von Psychotherapie (wobei Therapie mit Dienen, Dienst, Heilbehandlung übersetzt wird) im Laufe der Jahre von der Psychoanalyse, über das Verhaltensstudium und humanistische, erlebnisorientierte Ansätze bis zu systemischem Verständnis immer mehr in Richtung Selbstverantwortung verändert.

Diese „Bedingungen für die Möglichkeiten von Selbstorganisationsprozessen“ in komplexen Systemen können als >generische Prinzipien< (von: generalis = allgemein, die ganze Gattung betreffend) bezeichnet werden.

Die Therapeuten sollten und die Patienten (oder auch Firmen) dürfen diese Bedingungen kennen, um sich im eigenen Prozess zu orientieren und um Fragen zur Qualität ihres Prozesses zu stellen, in dem sie sich befinden.

Bedingungen / generische Prinzipien für die therapeutische Selbstorganisation

Stabilitätsbedingungen
Erlebt der Patient strukturelle und emotionale Sicherheit – und birgt dies eine Vertrauensbasis?
Wird sein Selbstwertgefühl unterstützt?

Identifikation von Mustern im System
In welchem System (z. B. individuelles Verhalten, Gedanken oder Gefühle, Interaktionsmuster oder Systemprozesse) sind Veränderungen beabsichtigt?
Ist zu erkennen, was sich verändert und wohin die Interventionen zielen?

Sinnbezug
Vor welchen Herausforderungen sieht sich der Patient / das System (z.B. eine Familie, ein Betrieb, eine Abteilung) im Moment?
Was ist die aktuelle und (lebens)geschichtliche Situation und das Ziel?
Werden für und mit dem Patienten / der Gruppe sinnvolle Einordnungen und Bewertungen des Veränderungsprozesses geklärt und gefördert?
Haben die Interventionen Bezug zu Lebensstil und zu persönlichen Entwicklungsaufgaben des Patienten / der Gruppe? Ist das therapeutische Verhältnis von Wertschätzung gegenüber den Lebensentwürfen des Patienten / des Systems geprägt?

Kontrollparameter / Energetisierungen
Werden intrinsische (= von innen her, aus eigenem Antrieb durch Interesse an der Sache) Motivationen für die Veränderung aktiviert, ebenso wie vorhandene Ressourcen (= Hilfsquellen, Reserven) ?
Wie ist der Bezug zu Zielen und Anliegen des Patienten / der Gruppe?

Destabilisierung / Fluktuationsverstärkungen
Erfolgen Verhaltensexperimente und Musterunterbrechungen?
Werden Grenzen, Differenzierungen wie neue Kontaktmöglichkeiten eingeführt?
Werden Ausnahmen, z.B. ungewöhnliches, neues oder funktionierendes Verhalten, bedacht und erprobet?

„Kairos“ (= günstiger Zeitpunkt) beachten,
Resonanz (= Mitschwingen eines anderen Körpers, Widerhall, Anklang, Verständnis) und
Synchronisation (= Herstellen des Gleichlaufs zweier Vorgänge) ermöglichen.
Wie ist die zeitliche Passung und Koordination therapeutischer Vorgehensweisen?
Wie passen Kommunikationsstile mit psychischen und sozialen Prozessen / Rhythmen des Patienten / des Systems?

Gezielte Symmetrieberechnung vorbereiten
Werden immer wieder Zielorientierung, Antizipation (= gedankliches Vorwegnehmen einer Entwicklung / Erfahrung) und geplante Realisation von Strukturelementen des neuen Ordnungszustandes in den Blick genommen?

Re-Stabilisierung
Welche Maßnahmen zur Stabilisierung und Integration neuer Kognitions-Emotions-Verhaltens-Muster sind erkennbar?

Am Ende des therapeutischen oder Beratungs-Prozesses sollten Sie sich in jedem Fall besser fühlen.
Zwischenzeitlich wird das immer einmal wieder nicht so sein, da sich jedes System gegen Veränderungen wehrt, weil es auf Systemerhaltung eingestellt ist. Zudem werden immer wieder frühere Erfahrungen und Gefühle ins Bewusstsein gespült, die schmerzhaft waren. Dennoch macht es Sinn, diese unbewussten – also nicht gewussten und damit nicht veränderbaren – Aspekte ans Licht zu bringen, um wieder aktiv Entscheidungen treffen zu können, die sonst aus dem Versuch, die Dinge im Dunklen halten zu müssen (um z.B. dem Schmerzerleben zu entgehen) immer wieder sabotiert wurden/würden. So entstehen Verhaltensschleifen, Wiederholungen, die wir nicht wollen, aber dennoch regelhaft herstellen.
Wiederholungen helfen uns nun, die Muster zu erkennen; sie bedeuten jedoch auch gleichzeitig, dass wir sie lernen und immer besser können. Entsprechend langwierig sind oft die Veränderungsprozesse. Wir sind eben biologische Systeme und keine programmierbaren Roboter. Aber innerhalb der Möglichkeiten unseres Systems ist vieles möglich; meist viel mehr als wir glauben und erwarten. Wir rechnen ja immer unsere alten Erfahrungen hoch, doch das Hier und Jetzt ist völlig neu und offen.

In Anlehnung an: Nervenheilkunde 12/2008, 27, 1138-1146, Prof. Dr. G. Schiepek, Salzburg



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